„Ein Kreis in der Sonne. Auf der linken Seite. Sie machen irgendein Ritual und in 10 Minuten werden sie landen“
Der Morgen zieht langsam an mir vorbei. Die Musik lässt meine Gedanken schon den Zug verlassen, während in der Ferne die Lichter der Stadt langsam näher kommen. Mein Ziel heißt: Shtraklevo, Bulgarien. Tage zuvor bin ich nach Osten aufgebrochen. In das Land, so spirituell, dass die Zukunft noch in der Hand liegt. Doch ist dieses Land wirklich so gläubig? Hat dieses Land wirklich den Ruf, der ihn bis zum Westen verfolgt?
Zumindest Shtraklevo ist eng verbunden mit drei Hellseherinnen: Radka, Zdravka und Ekatherina. Wieso sind damals 3000 Menschen zum Flughafen geströmt, haben stundenlang gewartet und nach oben gestarrt? War es die Hoffnung auf bessere Zeiten? Neugier? Sensationslust? Wäre ich auch der Prophezeiung der drei Frauen gefolgt?
Der Zug rattert über die Donaubrücke. In 15 Minuten wird der Zug anhalten, meine Kontaktperson Christiana wird mich begrüßen, mich in ihr Auto packen und sagen: „I have good and bad news for you, the bad one first: one of the ladies is already dead, but I have found the ex-husband of her, his name is Nikolai Vasilev“. Wir werden ihn noch treffen.
Heiß war es an diesem Montagmorgen, am 11. September 1995. Die Sonne hatte sämtliche Wolken beiseite geschoben, nur Kondensstreifen von Flugzeugen störten den blauen Himmel über Shtraklevo. Sommer in Bulgarien. Der schwarze BMW bahnte sich seinen Weg durch die Menge. Er nahm zuerst die 202, bog an dem Fliegermonument ab und steuerte auf das kleine Flughafengebäude. Autokennzeichen P233AA, der Sohn von Radka fuhr.
Heiß ist es an diesem Montagmorgen, Mai 2015. Die Sonne hat sämtliche Wolken beiseite geschoben.
Mit meinem kleinen, roten Fahrrad nehme ich erst einen Feldweg, biege auf die 202, passiere das Fliegermonument und steuere auf das kleine Flughafengebäude. Die Straße ist menschenleer. Es ist der Ort an dem die Außerirdischen empfangen wurden.
Ein uniformierter Mann beobachtet mich durch eine verdreckte Fensterscheibe. Grün, braun, Camouflage. Ich winke, er winkt zurück. Erst bei unserer zweiten Begegnung erfahre ich seinen Namen, Anton. Seine Körper ist verbrannt, monatelang lag er im Krankenhaus, Haut musste ihm transplantiert werden, sein Fleisch wuchs wie Blumenkohl. Seit seinem Unfall kann er die Zukunft lesen. Er ist einer der vier Sicherheitsbeauftragten, die rund um die Uhr den Flughafen bewachen.
Zwei Tage später ist Markt in Shtraklevo. Menschen flanieren zwischen den Ständen, trinken Kaffee, treffen sich auf einer Parkbank, um die Zeit langsam vorbeiziehen zu lassen. Eine Bar, ein Restaurant, Gemeindezentrum, vier Lebensmittelgeschäfte, Kirche, Post, Frisör - 3000 Menschen wohnen in dieser Gemeinde, 20 Minuten entfernt von der Industriestadt Ruse. Ein lautstarkes Stimmengewirr begrüßt Christiana und mich in dem Café. Die Leute sind skeptisch uns gegenüber, verschlossener als wir dachten. Erst der Priester öffnet uns die Tür, kennt seine Schäfchen. Er schwebt über den Marktplatz, sucht und findet.
Eine Menschentraube bildete sich um Radka. Der Pulk lief durch das Gebäude, um am Ende auf die Landebahn zuzusteuern. Die Presse wartete vor Ort, lokal, national, Print, Radio, Fernsehen. Alle waren da, um die Ereignisse zu verbreiten und für die Nachwelt zu sichern. Keiner konnte damit rechnen, dass so viele Menschen zum Flughafen pilgern würden. Die Menschen pressten sich gegen die Drahtzäune, starrten gen Himmel und warteten. Noch war es nicht so weit, noch sollte es mehr als eine Stunde dauern. Um 11 Uhr sollten acht Raumschiffe auf dem Flughafen landen und Bulgariens Kinder retten. Shtraklevo wartete gebannt auf ihre Ankunft.
Es bleibt uns keine Zeit zum Durchatmen. 10 Minuten! Dann treffen wir den ehemaligen Bürgermeister der Gemeinde Shtraklevo. Er sitzt in seinem gutgepflegten Garten, seine Frau ist gerade mit einem Tablett voller Kekse und Kaffee wiedergekommen, Zucker, keine Milch. Er ist der erste demokratisch gewählte Bürgermeister dieses Dorfes. Darauf ist er stolz.
Über 90 Minuten kommt Sevdalin zum vereinbarten Termin zu spät. Er streckt mir seine Visitenkarte entgegen. Gelb-roter Farbverlauf, Fotograf, Dozent. Ich finde das Design schwierig. Er war damals mit seinem Sohn vor Ort, war Nachbar von Ekatherina, wusste es von ihr:
„Es ist bewiesen, dass das Leben, das man hier auf der Erde findet, von Oreon abstammt. Wieso sollte er nicht der erste sein, der die Außerirdischen sieht?“ fragt er mich. Ich stutze. Oreon taucht zumindest nicht in meinem Stammbaum auf. Sevdalin kommt in Redefluss, redet über Nepal, Yin-Yang, die sogenannte DNA-10-Ziffer-Kodierung, über Rassentheorie, bis er wieder auf unsere Geschichte zurückkommt. Die drei Hellseherinnen lernten sich über das Haus der Jugend kennen - zusammen haben sie mit Mister Soin geredet, dem Präsidenten des Planeten Krissi.
Und plötzlich kommt mir der Gedanke gar nicht mehr so absurd vor! Vielleicht ist mein westliches Gedankengut doch zu sehr voreingenommen? Vielleicht gibt es ja tatsächlich Menschen, die in die Zukunft sehen können, die mit fremden Wesen kommunizieren können? Hellsehen, Wahrsagerei scheint in Bulgarien in der Mitte der Gesellschaft zu stehen. Baba Vanga war die berühmteste Hellseherin Bulgariens. Der Staat verwaltete damals die Gebühren. Die offizielle Wartezeit betrug ein Jahr, Politiker wollten mit ihr gesehen werden Zugegebenerweise wollen Politiker immer gesehen werden, aber neben einer Seherin? Zauberkugel, Drachenblut, Tarotkarten, zumindest in meinem Kopf kann ich mir Angela Merkel neben einem dampfenden Kochtopf vorstellen. Aber nie würde sie sich auf der Walpurgisnacht fotografieren lassen! Bulgarien war damals in der postkommunistischen Krise, man klammerte sich an jede Hoffnung, egal in welcher Form. Doch noch heute sucht die Polizei mit Hilfe von Wahrsagerinnen nach verschwundenen Personen.
Es scheint eine größere Akzeptanz in der bulgarischen Gesellschaft für Unerklärbares zu herrschen. Aber ist der Unterschied wirklich so groß, Wahrsagerei oder Technikglaube, Spiritualität oder Rationalität? Würden die Politiker hierzulande weitsichtiger handeln, wenn sie eine Glaskugel hätten? Mir ist es irgendwie sympathisch nicht alles erklärt haben zu müssen, auch mal an das Wunder zu glauben, auch mal staunen zu dürfen. Nicht immer hinterfragen zu müssen.
Geschützt vor der Mittagshitze sitzen wir zusammen mit Nikolai Vasilev in Ivan Lazarovs Arbeitszimmer - oder ist es sein Schlafzimmer? Die Decke tief, die Neonröhren erzeugen ihr charakteristisches Arbeitslicht. Desktophintergrund: Ein Hakenkreuz. An der Wand: das letzte Abendmahl. Jesus hängt neben den Beatles, Led Zeppelin, Stalin, Hitler.
Die NASA-Software zeigt, dass das kein Planet, kein Stern und kein Flugzeug sein kann, nichts anderes als etwas Unerklärliches. Ein unbekanntes Flugobjekt, sagt Ivan. Ein junger Ingenieur-Informatiker hat 2001 sein Foto untersucht. Ein Programm, das analoge schwarz-weiß Fotos in unterschiedlichen Farben wiedergibt. Die Gesetze der Physik geben ihm Recht, sagt er.
Ivan ist der Gründer des ersten Ufo-Clubs Bulgariens, betreibt einen kleinen Internet-Blog (http://bufonet.org/). „die Wahrheit, die Wahrheit, die ganze Wahrheit über Ufos und andere Geheimnisse,“ prangt auf kyrillisch auf seiner Webseite.
„Große Erwartungshaltung“, denke ich, als ich diesen Clip sehe und bin gleichzeitig froh, dass keiner von mir erwartet, dass ich ihre Nation rette. Wie auch? Mit meinem Baföggehalt? Trotzdem haben Ivan und Nikolai mich herzlich empfangen. Nikolai durfte damals mit seiner Kamera die drei Hellseherinnen begleiten. Er ist Filmemacher, Journalist und Exmann von Zdravka. Ihre gemeinsamen Söhne standen auf dem Flugfeld neben ihr, sie hatten Blumen mitgebracht.
Spätestens jetzt wäre ich auch nervös geworden. 10 Minuten! 10 Minuten wirken so greifbar nah. 10 Minuten in denen auch ich meine Sonnenbrille ausgepackt hätte und nach oben gestarrt hätte. Knapp 20 Jahre später sitze ich aber noch zwischen Ivan, Nikolai und seiner skurrilen Bildersammlung. Ivan steckt sich wieder eine Zigarette an, wird den Aschenbecher weiter füllen und mir die Vorgeschichte erzählen.
Ich räuspere mich. „Entschuldigung, ich suche Archivmaterial von dem 11. September 1995. Stichwort: Außerirdische! Empfang! Ein ganzes Dorf war da“. Ich komme mir vor wie ein Verrückter, ein Verschwörungstheoretiker. Sie starrt mich an, kein Englisch - Sorry. An einem späten Nachmittag stehe ich in dem Archiv von Ruse. Ich krame in meinem Buch nach den Worten: Außerirdische, Empfang – ich finde sie nicht. Warum eigentlich nicht? Außerirdische ist doch ein Wort, das der Tourist auf jeder Reise und an jeder Ecke brauchen kann. Mit Händen, Füßen, Lächeln versuche ich mein Anliegen zu erklären. Verzweifelt muss ich ausgesehen haben, so verzweifelt, dass eine Studentin für mich übersetzt. Wir eilen durch verschiedene Gänge, hier eine Tür, dort ein Gang, am Ende habe ich die Orientierung verloren.
Doch die Geschichte sollte noch eine Wendung nehmen, wollte noch nicht zu Ende sein. Ich habe Momchil Mihaylov in der alten Bibliothek getroffen. Er hat eine Agentur: Fotograf, Musiker, Designer. Momchil arbeitete damals bei einer lokalen Zeitung. Auch er kann in die Zukunft sehen - erwähnt er in einem Nebensatz.
Die Nacht hat sich über Shtraklevo gelegt. Ich starre wortlos auf den Grill. Die drei Frauen wurden von der Geschichte Shtraklevos verschluckt. Eine von ihnen soll in psychatrischer Behandlung sein, von der anderen fehlt jede Spur. Zu viele Menschen habe ich getroffen, die in die Zukunft sehen können, die an Außerirdische glauben, die von Oreon abstammen. Bulgarien ist spirituell, sonderbar, aber liebenswert. Das die Außerirdischen doch nicht am 11. September 1995 in Shtraklevo gelandet sind, lag sicherlich nicht an den Menschen, nicht an Bulgarien. Der Tag lässt einen ungewöhnlichen Geschmack zurück. Das Spiel mit Hoffnung? Dem Glaube? Ausgenutzt durch den Geschäftssinn eines Wurstverkäufers? Spekulation! Ich wende mein Fleisch, greife nach einem kühlen Bier. Es schmeckt gut. Ich fühle mich willkommen.
Jakob Hüfner, Walter Bauer-Wabnegg, Christoph Römer, Gianluca Pandolfo, Tobias Wolf , Lisa Schurrer, Mario Pfeffer, Daniel Schulz, Hanspeter Schmitt, Claudia Schmitt, Juliane Schmitt, Johannes Schmitt, Tanja Mori Monteiro, Eduardo Mori Monteiro, Moritz Semen, Martin Valkanov, Arian Wichmann, Alem Kolbus, Sebastian Schäfer, Johannes Domeier, Florian Froger, Torben Hecht, Kalina Bishikova, Christiana Stomonyakova, Presila Ivanova, Nelly Pashova, Valeria Yordanova, Roland M. Horn, Christian Czech, Svetlana Kirova, Elisa Calosi, Vaiana O‘Tasheva, Momchil Mihaylov, Culture energy, Plamen Panayotov, Nikolai Vasilev, Ivan Lazarov, dem Priester von Shtraklevo, ehemaligen Bürgermeister + seine Frau, Anton, Flughafen Ruse und das Sicherheitspersonal + Chef, den Männern auf der Parkbank, der netten Bedienung in der einzigen Bar in Shtraklevo, der Romafrau und ihrem Mann, Sevdalin, Vesselina Antonova und alle die ich vergessen habe.
„Menschen die nach oben starren“ ist meine Bachelorabschlussarbeit des Studienganges Medienkunst/-gestaltung. Mein Portfolio besteht aus mehrere Hörspielen, Kurzfilmen, Dokumentationen, Texten und Webprojekten. Nur mit Hilfe in Fotografie, Design und Programmierung war dieses Projekt realisirbar.
Julius Schmitt
Durch mein Studium und meine Arbeit habe ich in unterschiedlichsten medialen Projekten mitgewirkt. Wenn ich nicht fotografiere, widme ich mich meiner anderen großen Leidenschaft: dem Film.
www.chrisroemer.de
Ich bin Masterstudent der Medienkunst/-gestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar. Neben dem Studium arbeite ich als Freelance Webdesigner und Gamedeveloper.
www.kidsonsugar.com
Ich studiere Medienkunst/-gestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar und arbeite gerade an meiner Abschlussarbeit zum Thema Mensch und Raum. Meine Arbeiten zuvor bewegten sich im Bereich: Interface Design, multimedialem Erzählen und experimenteller Televison.
www.tobiaswolf.me